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Kooperation im schulischen Ganztag "Wir sind alle Schule"

Eine Ganztagsschule ist ohne Zusammenarbeit verschiedener Professionen und außerschulischer Partner nicht denkbar. Wie funktioniert die Kooperation und was macht ein gutes Miteinander aus? Wie gehen ganztägige Angebote auf die Wünsche und Bedürfnisse der Kinder ein und welchen Beitrag leistet der Ganztag für mehr Chancengerechtigkeit und Teilhabe?

Silke Zimmermann leitet eine gebundene Ganztagsgrundschule in Bremen und Mike Menke die ergänzende Förderung und Betreuung (Hortangebot) an einer offenen Ganztagsschule in Berlin. Im Interview berichten sie über ihre Erfahrungen aus der Praxis.

Hinter dem Begriff "Ganztag" verbergen sich eine Reihe ganz unterschiedlicher Angebote in und außerhalb der Schule. Wie ist bei Ihnen der Ganztag organisiert?

Zimmermann: Bei uns, wie in vielen gebundenen Ganztagsschulen in Bremen, geht die Schule von 8:00 bis 15:00 Uhr. Der Tagesablauf ist rhythmisiert mit Zeiten für Lernen, Spielen, Essen und Entspannung. Anschließend gibt es bis 16:00 Uhr ein ergänzendes Angebot, das kostenfrei ist und allen offensteht. Kinder, deren Eltern berufstätig sind, können bis 17:00 Uhr bleiben oder eine kostenpflichtige Frühbetreuung ab 7:00 Uhr besuchen. Unsere Schule ist noch neu und am Wachsen, wenn der Bedarf besteht, können wir die Betreuung bis 20:00 Uhr ausweiten.

Unsere Schule arbeitet ganz bewusst als offene Ganztagschule.

 

Menke: Unsere Schule arbeitet ganz bewusst als offene Ganztagsschule, da wir wollen, dass die Kinder freiwillig kommen. Wir öffnen um 6:00 Uhr für Kinder berufstätiger Eltern, ab 7:30 Uhr können dann alle kommen. Wir starten um 8:00 Uhr mit Schulaufgaben, bei denen bis 8:30 Uhr auch die Eltern dabei sein können. Klassische Hausaufgaben gibt es bei uns nicht. Der Unterricht der verlässlichen Ganztagsgrundschule geht bis 13:30 Uhr und danach beginnt die ergänzende Förderung und Betreuung mit gruppenbezogenen Angeboten und AGs. Über 90% der etwa 600 Schülerinnen und Schüler nutzen diese Angebote. In den Ferien haben wir von 8:00 bis 18:00 Uhr geöffnet.

Die Kinder verbringen also viel Zeit bei Ihnen. Wie stellen Sie sicher, dass sie sich wohlfühlen und auch ihre Rechte gewahrt werden?

Zimmermann: Wir binden die Kinder stark in den Schulalltag ein. Sie dürfen über vieles mitbestimmen und auch Kritik üben. In jeder Klasse tagt einmal pro Woche der Klassenrat, die Klassensprecherinnen und Klassensprecher treffen sich regelmäßig im Schülerparlament. Bei uns kommen alle Fragen auf den Tisch: Wie ist das Essen? Wie können wir besser lernen? Wie kriegen wir es hin, dass es nicht so laut ist? Das ist für die Gemeinschaft gut, aber auch für die Demokratiebildung. Wir zeigen den Kindern, wie man miteinander umgehen und auf friedlichem Weg Dinge erreichen kann.

Uns ist es wichtig, dass die Kinder die Schule als einen positiven Ort erleben.

 

Menke: Uns ist es wichtig, dass die Kinder die Schule als positiven Ort erleben und sich ernst genommen fühlen. Auch bei uns gibt es Klassenräte und ein Schülerparlament. In jedem Schuljahr entwickeln die Klassen ein Theaterstück zu einem frei gewählten Thema. Alle Ferien haben bei uns ein Oberthema, das die Schülerinnen und Schüler aussuchen. Wir machen alle zwei Jahren einen Sponsorenlauf, bei dem die Kinder Runden um die Schule laufen und Erwachsene Geld auf sie setzen können. Das Schülerparlament legt fest, wohin das eingenommene Geld gehen soll.

Der Rechtsanspruch auf die Ganztagsbetreuung soll Bildungs- und Teilhabechancen von Kindern verbessern. Kann der Ganztag das in der Praxis wirklich leisten?

Ich bin der festen Überzeugung, dass sich die Bildungschancen erhöhen.

 

Zimmermann: Ich bin der festen Überzeugung, dass sich die Bildungschancen durch den Ganztag erhöhen. Es gibt in Bremen viele Familien, die von Armut betroffen sind und ihren Kindern deshalb wenig bieten können. In manchen Familien bedeutet Freizeit, ausschließlich zu Hause zu sein. Die Kinder gehen kaum zum Sport oder ins Museum und verlassen selten ihren Stadtteil. Im gebundenen Ganztag erreichen wir wirklich alle Kinder. Sie lernen bei uns nicht nur im Klassenraum Deutsch und Mathe, sondern erleben auch soziales Miteinander und lernen in Projekten. Sie können an kulturellen und sportlichen Angeboten teilnehmen.

Menke: Wir sind zwar keine gebundene Ganztagsschule, trotzdem erreichen wir fast alle. Wir bieten den Schülerinnen und Schülern eine große Palette an Aktivitäten, die das selbstbestimmte Lernen fördern. Angefangen vom Freispiel, über kreative Angebote bis hin zu solchen, die das eigene Forschen in den Mittelpunkt stellen. Es gibt eine Vielzahl an AGs zur Auswahl. Auch bei uns wäre es so, dass die Kinder, wenn sie nicht zu uns kommen, zu Hause vor Videospielen, dem Computer oder dem Fernseher sitzen würden. Die Sprachkompetenz würde leiden, da in vielen Familien kein Deutsch gesprochen wird.

Ohne die Zusammenarbeit verschiedener Akteure ist kein Ganztag möglich. Wer kooperiert bei Ihnen und wie läuft das ab?

Zimmermann: Wir sind ein Team aus Lehrerinnen sowie Erzieherinnen und Erziehern und arbeiten nach dem Arbeitszeitmodell. Das bedeutet, eine Kollegin, die beispielsweise 28 Schulstunden unterrichtet, ist mindestens 35 Stunden an der Schule. Alle Lehrerinnen und Erzieherinnen und Erzieher haben einen Arbeitsplatz bei uns. Weil alle vor Ort sind, können Absprachen, Ideenbörsen und Besprechungen wirklich im Team stattfinden. Dann gibt es Kooperationen mit externen Partnern wie etwa mit der Stadteilfarm, dem Tennisverein, dem Sportgarten sowie mit einem theaterpädagogischen Projekt.

Menke: Wir sind als Kooperationspartner direkt an der Schule. Es gibt etwa 60 Lehrkräfte an der Erika-Mann-Grundschule sowie 50 Erzieherinnen und Erzieher, zehn Schulhelferinnen und Schulhelfer und zwei Sozialpädagogen, die beim deutschen Kinderschutzbund angestellt sind. Alle Erzieherinnen und Erzieher gehen etwa sechs Unterrichtsstunden pro Woche mit in die Klassen der Kinder, die sie auch am Nachmittag betreuen. Der Austausch zwischen den Lehr- und Erziehungskräften ist fest in den Dienst- und Stundenplänen verankert. Wir haben Kooperationen mit einem Theater und einer Tanzschule sowie mit einigen Museen. Mit diesen Partnern gibt es auch regelmäßige Treffen.

Welche Faktoren machen bei Ihnen die gute Zusammenarbeit aus?
Mike Menke

Menke: Als wir 2005 als Kooperationspartner an die Schule kamen, war die Zusammenarbeit extrem anstrengend. Wir wurden als Fremdkörper betrachtet und von oben herab behandelt. Dann hatten die Erzieherinnen und Erzieher einen Studientag und die Lehrkräfte haben ihre Arbeit übernommen. Auf einmal sahen sie sich völlig unbekannten Herausforderungen gegenübergestellt. Die Kinder waren ganz anders, als die Lehrkräfte sie aus dem Unterricht kannten. Aus diesen Erfahrungen heraus wuchs die Achtung vor unserem Job. Es dauerte dennoch eine gewisse Zeit, bis das Team zusammengewachsen ist. Mittlerweile geht alles Hand in Hand und auf Augenhöhe. Schon lange sind wir Erzieherinnen und Erzieher in der Gesamtkonferenz stimmberechtigt und alle Kolleginnen und Kollegen überarbeiten gemeinsam die Curricula.

Ohne Zeit keine Absprachen, ohne Absprachen kein Gelingen.

 

Zimmermann: Dieses „auf Augenhöhe“ klingt zwar abgedroschen, aber auch uns war von Anfang an klar: Jeder und jede zählt hier gleich. In der Gründungsphase haben wir darauf geachtet, dass jede Person, die an der Schule anfängt, diese Zusammenarbeit genauso möchte. Wir versuchen, dass alle an möglichst vielen Sitzungen teilnehmen können und wechseln uns ab, damit in dieser Zeit immer jemand bei den Kindern ist. Eine Gruppenbildung, hier die Lehrerinnen und dort die Erzieherinnen und Erzieher, war bei uns nie ein Thema. Aber es braucht auf jeden Fall Zeit. Ohne Zeit keine Absprachen, ohne Absprachen kein Gelingen.

Menke: Zeit ist ein wesentlicher Faktor. In Berlin haben Erzieherinnen und Erzieher bei einer Vollzeitstelle gerade mal vier Stunden Vor- und Nachbereitungszeit. Da kann man gar nicht mehr reden. Wir nehmen uns mehr Zeit für Kommunikation, dann kommt auch mehr Qualität heraus. Nicht nur die Partizipation der Kinder ist notwendig, sondern auch die der Kolleginnen und Kollegen. Wir unterscheiden zwar zwischen Unterricht und ergänzender Betreuung, aber wir sind alle Schule. Das ist noch nicht überall im Bewusstsein verankert.

Sehen Sie den Rechtsanspruch als Chance oder erfüllt Sie die Umsetzung eher mit Sorge?

Menke: Den Rechtsanspruch finde ich gut, keine Frage, den sehe ich als Chance für die Kinder. Aber haben wir genügend Fachkräfte dafür? Die Situation ist jetzt schon sehr angespannt. Das bereitet mir schon Sorgen.

Zimmermann: Für den Rechtsanspruch braucht es mehr Räume, Zeit und Personal. Denn im Ganztag geht es nicht mehr nur darum, dass eine Lehrkraft 28 Stunden vor der Klasse steht und ihren Stoff vermittelt. Auch die Erzieherinnen- und Erzieherausbildung muss verändert werden. Bei uns in Bremen ist es beispielsweise in zu wenigen Schulen möglich, das Anerkennungsjahr zu machen. Dadurch sind wir bei der Personalgewinnung im Nachteil gegenüber der Kita. Das ist ein Problem, das noch gelöst werden muss.

Über die Interviewten

Silke Zimmermann

ist Schulleiterin an der Grundschule Sodenmatt, einer gebundenen Ganztagsschule in Bremer Stadtteil Huchting. Die Schule wurde 2020 gegründet und wird aktuell von etwa 100 Schülerinnen und Schülern besucht. Zudem ist sie in der „Serviceagentur ganztätig lernen“ am Landesinstitut für Schule Bremen und im Vorstand des Ganztagsschulverbands tätig.

Mike Menke

leitet seit 2005 die ergänzende Förderung und Betreuung (Hortangebot) an der Erika-Mann-Grundschule in Berlin. Das Angebot wird in Kooperation mit dem Deutschen Kinderschutzbund umgesetzt, bei dem Mike Menke angestellt ist. An der offenen Ganztagsschule verbringen etwa 600 Schülerinnen und Schüler gemeinsamen den Tag.

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