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WiFF-Fachforum am 27. Juni 2024 Macht Personalnot erfinderisch? Perspektiven und Lösungsansätze zum Fachkräftemangel
Der Personalmangel im gesamten sozialen Sektor hat sich zur Krise ausgewachsen. Einrichtungen der Behindertenhilfe und Pflegeeinrichtungen müssen ganze Stationen oder Dienste schließen. Kindertageseinrichtungen sehen sich gezwungen, Betreuungszeiten einzuschränken oder Gruppen zu vergrößern, Unterbringungsplätze für gefährdete Kinder- und Jugendliche sind rar und auch Fachkräfte im öffentlichen Dienst wie z.B. im Allgemeinen Sozialen Dienst der Jugendämter lassen sich zunehmend schwerer finden.
Der Aufgabe, Strategien im Umgang mit dem Fachkräftemangel sektorübergreifend für das gesamte Feld sozialer Berufe in den Blick zu nehmen, stellten sich die Weiterbildungsinitiative Frühpädagogische Fachkräfte (WiFF) und der Deutsche Verein für öffentliche und private Fürsorge e.V. im Rahmen einer gemeinsamen Fachtagung für Praxis und Wissenschaft.
Begrüßung und Einführung
Prof. Dr. Kirsten Fuchs-Rechlin, Projektleiterin der Weiterbildungsinitiative Frühpädagogische Fachkräfte, eröffnete die Fachtagung und ging zunächst auf aktuelle Entwicklungen bei der Personalsituation in der Kindertagesbetreuung ein. Um der Fachkräftegewinnung und -bindung zu begegnen, müssten multiple Strategien und ein Bündel an Maßnahmen aus den vier Bereichen Ausbildung, Regulierung, finanzielle Anreize sowie Personalentwicklung auf den Weg gebracht werden und das über die verschiedenen Systemebenen hinweg - also Bund, Land, Kommunen und Träger. Trotz enormer bundesweiter Zuwächse der letzten Jahre, allen voran bei der Erzieher:innenausbildung, zeichne sich insbesondere in den westlichen Bundesländern eine dramatische Fachkräftelücke ab, die nicht durch die Zahl der Ausbildungsabgänger:innen gedeckt werden. Einzelne Maßnahmen hätten bis dato nicht die gewünschten Effekte gezeigt.

Nora Schmidt, Geschäftsführerin beim Deutschen Verein, begrüßte die Bereitschaft der Teilnehmenden zum Blick über den Tellerrand. Der Fachkräftemangel betreffe längst nahezu die gesamte soziale Infrastruktur. Es sei daher dringend notwendig, bereichsübergreifend zu erörtern, welche kurz-, mittel- und langfristigen Ansätze zur Bewältigung des Personalbedarfs greifen. Auch sei zu überlegen, wie die einzelnen Handlungsfelder der Kinder- und Jugendhilfe, der Pflege und der Eingliederungshilfe voneinander lernen können. Eine realistische Bestandsaufnahme sowie gemeinsame Strategien seien mehr denn je gefragt, so Nora Schmidt.
Keynote Prof. Dr. Rothgang: Was bringt das neue Personalbemessungsinstrument in der Pflege?

In allen Arbeitsfeldern viel diskutiert ist die Frage nach einer korrekten, an den jeweiligen Anforderungen und Aufgaben orientierten Personalbemessung sowie nach einem angemessenen Einsatz von Fach- und Assistenzkräften. In der stationären Langzeitpflege wurden hierzu bereits bundeseinheitliche Kriterien entwickelt und eine gesetzliche Regelung geschaffen. Diese stellt Prof. Dr. Heinz Rothgang von der Universität Bremen, Leiter des Modellprogramms Entwicklung und Erprobung eines Konzepts zum qualifikationsorientierten Personaleinsatz, in seinem Keynote-Vortrag vor. Ausgangspunkt war eine allgemein konstatierte, jedoch schwer quantifizierbare personelle Unterbesetzung in der stationären Langzeitpflege. Basierend auf der systematischen Beobachtung und Beschreibung einzelner Kernprozesse wurde ein Algorithmus entwickelt, der in Abhängigkeit vom Pflegegrad der Bewohner:innen den Personalbedarf einer Einrichtung bestimmt. Im Ergebnis wurde ein bundesweiter durchschnittlicher Mehrbedarf an Personal von etwa 30 Prozent ermittelt, und zwar überwiegend im Bereich ausgebildeter Assistenzkräfte. Auf dieser Grundlage wurde die seit Juni 2023 gültige bundeseinheitliche Regelung zur Refinanzierung von Personal in Pflegeeinrichtungen eingeführt, die es Einrichtungen stufenweise ermöglicht, Personal im Umfang des ermittelten Bedarfes zu refinanzieren. Ein weiteres Ergebnis der Untersuchung war, dass Aufgaben nicht kompetenzorientiert, sondern eher zufällig von Mitarbeiter:innen verschiedener Qualifikationsniveaus ausgeführt wurden. In einem bundesweiten Modellprojekt wird daher in derzeit zehn Einrichtungen eine kompetenzorientierte und an den Bewohner:innen ausgerichtete Arbeitsorganisation entwickelt, eingeübt und evaluiert.
Keynote Prof. Dr. Tina Friederich: Strategien für den Fachkräftemangel in Kindertageseinrichtungen

Im zweiten Keynote-Vortrag zeigte Prof. Dr. Tina Friederich von der Katholischen Stiftungshochschule München auf, welche Strategien der Personalgewinnung und Bindung frühpädagogischen Personals in den letzten Jahren zum Einsatz kommen. Die Bundesländer und Träger gingen dabei unterschiedlich vor, aber es sei zu beobachten, dass weder die Öffnung der Fachkräftekataloge der Länder für verschiedene Berufe und Qualifikationsstufen noch die Anwerbung von Fachkräften aus dem Ausland zu nennenwerten Aufwüchsen geführt habe. Auch die die Ausweitung der Ausbildungskapazitäten hätte noch zu keinen nenneswerten Effekten geführt, so die Professorin für Kindheitspädagogik. Die zahlenmäßig relevanteste Steigerung beim Personal lasse sich derzeit bei der Einbindung fachfremder Personen für nicht erzieherische Aufgaben - insbesondere Hauswirtschaft - beobachten; Laut Tina Friederich stellen sich hier auch erhebliche Herausforderungen für eine qualifikationsangemessene Verteilung der Aufgaben und die Zusammenarbeit im Team.
Parallele Workshops mit Impulsvorträgen
Workshop 1: Personalgewinnung – Konzepte und Instrumente: Wie können Zugänge diversifiziert und Qualifizierungswege erleichtert werden?
Gitta Bernshausen, Vorständin des Trägers Sozialwerk St. Georg Gelsenkirchen, stellte im Workshop 1 "Personalgewinnung - Konzepte und Instrumente" die Herausforderungen im Handlungsfeld Eingliederungshilfe vor. Die Eingliederungshilfe unterstütze Menschen mit psychischen und physischen Beeinträchtigungen aller Altersgruppen. Stellenweise sei der Versorgungsanspruch aufgrund von Personalmangel gefährdet. Mit verschiedensten Maßnahmen, wie der Gewinnung von Quereinsteiger:innen und Fachkräften aus dem Ausland und deren barrierearme Weiterqualifizierung, werde derzeit versucht, die Personallücke zu schließen. Auch Mitarbeiter:innen aus Zeitarbeitsfirmen werden eingesetzt. Entscheidend für eine erfolgreiche Personalgewinnung und -bindung sei es, die Arbeitgebermarke und deren Werte sowie Karrierewege und die Qualität der Organisation sichtbar zu machen.
Xenia Roth, stellvertretende Leiterin der Abteilung Frühkindliche Bildung, Ganztag und schulische Unterstützungsangebote für die Referatsgruppe Frühkindliche Bildung im rheinland-pfälzischen Bildungsministerium, beleuchtete das Arbeitsfeld Kindertagesbetreuung. Auch hier fehlten enorm viele Fachkräfte und anderes Personal. Für dieses Arbeitsfeld werde die neu- bzw. einheitlichere Gestaltung der Erstausbildung diskutiert. Das Ziel sei hier, neue Zielgruppen für die Arbeit in Kitas zu gewinnen, gleichzeitig die Assistenzberufe besser zu konturieren und damit attraktiver zu gestalten.
Anschließend diskutierten die Teilnehmenden, ob die Maßnahmen ausreichen, die Personalkrise zu lösen. Es seien Personalgewinnung im Ausland, eine Analyse der Zurückgewinnung von ausgeschiedenem Personal und attraktivere Rahmenbedingungen für eine Reduzierung der Teilzeitquote notwendig. Es solle auch nach Ursachen hoher Abgänge von Auszubildenden und Studierenden nach dem ersten Jahr der Ausbildung geforscht und Haltestrategien entwickelt werden. Praxisintegrierende Formate seien bewährt und helfen Anstellungsträgern, sich als zukünftige Arbeitgeber zu präsentieren. Ergebnisoffen wurden die Auswirkungen des demographischen Wandels in den ostdeutschen Bundesländern und der Umgang mit den mittelfristig freiwerdenden Personalkapazitäten diskutiert. Die Debatte um die Wiedereinführung der Wehrpflicht und ein verpflichtendes Gesellschaftsjahr sowie die Ausweitung des Freiwilligen Sozialen Jahres würden weitere Potentiale bieten, so die Workshop-Teilnehmenden.
Workshop 2: Entlastungspotenziale – Angebotssteuerung und Aufgabenkritik: Was muss anders geleistet werden, was kann wegfallen?

Jugendhilfe und Arbeitsmarkt © Andreas Schwarz
Wo einerseits die Potentiale der Gewinnung und Bindung von Arbeitskräften an Grenzen stoßen und andererseits Bedarfe steigen bzw. auf hohem Niveau verharren, stellt sich die Frage, wie die soziale Infrastruktur erhalten werden kann. Workshop 2 beschäftigte sich daher mit den Entlastungspotenzialen rund um die Steuerung von Angeboten und Aufgaben.
Ines Henke, Beigeordnete für Soziales, Gesundheit, Kinder- und Jugendhilfe sowie Arbeitsmarkt beim Niedersächsischen Landkreistag, zeigte auf, wie im Land Niedersachsen durch Flexibilisierung von Standards und Entbürokratisierung Freiräume geschaffen wurden. In den Hilfen zur Erziehung und in der Kindertagesbetreuung seien die Möglichkeiten zur Beschäftigung von Assistenzkräften und Personen mit nicht einschlägigen Ausbildungen erweitert worden. Gleichzeitig werde für die Berufe zum/r Erzieher:in, Heilerziehungspfleger:in und Pflegefachkraft intensiv geworben sowie die Assistenzausbildungen und Quereinstiege gefördert. Insgesamt gehe es bei der Personalgewinnung und -bindung um den Dreiklang Flexibilisierung von Standards, Entbürokratisierung und eine ‚Politik des Machbaren‘ bei der Leistungserbringung.

Eine „ressourcenorientierte Leistungserbringung“ war auch das Thema des Inputs von Matthias Röder, Leiter des Jugendamtes Darmstadt-Dieburg. Jugendämter befänden sich in dem Dilemma, für bedarfsgerechte Leistungen verantwortlich zu sein, dafür jedoch nicht genug Personal zu besitzen. Eine Entlastung könnte der Fokus auf gruppenbezogene Angebote und kooperative, multiprofessionelle und lebensweltnahe Konzepte sein. Herr Röder stellte ein Beispiel für eine modulhafte Angebotsgestaltung für junge Menschen mit unterschiedlichen Bedarfen vor. Voraussetzung dafür sei der institutionsübergreifende Ausbau kooperativer Leistungen auf kommunaler Ebene. Und auf Länder- bzw. Bundesebene wäre einerseits eine Erweiterung des Leistungsrechtes hilfreich, andererseits konzeptionelle Unterstützung, damit Jugendämter nicht allein diese komplexe Aufgabe lösen müssen.
In der Diskussion wurde die Parallele zur Eingliederungshilfe gezogen. Auch dort müssten sich die örtlichen Träger stärker vernetzen, um bedarfsgerechte Hilfen zu ermöglichen. Zwar bestünden schon heute Möglichkeiten, die Versäulungen aufzulösen und kombinierte Leistungen anzubieten, diese müssten allerdings proaktiver genutzt werden.
Workshop 3: Digitalisierungschancen – Verwaltung und Organisation: Welche Potenziale bieten digitale Technologien?

Workshop 3 behandelte die Digitalisierungschancen in Verwaltung und Organisation. Es wurden zwei Praxisbeispiele zur Einführung und Nutzung digitaler Prozesse aus dem Pflegebereich und aus der frühen Bildung vorgestellt.
Christoph Potthoff von der Diakonie Michaelshoven Pflege und Wohnen, stellte in seinem Vortrag zum Thema „(Team + Prozesse) + Digitalisierung = Zukunftsgestalter der Pflege“ den Einsatz von verschiedenen KI-Systemen in der Pflege vor. Die KI werde vor allem zur Unterstützung der Arbeitsprozesse genutzt, wie zum Beispiel die Dokumentation durch Spracheingabe mittels sogenannter Voize-Technologie. Für eine erfolgreiche Einführung digitalisierter Prozesse sei es jedoch entscheidend, die Abläufe gut zu strukturieren, über die hohe die Bedeutung von KI-Systemen ausreichend aufzuklären und den Mitarbeitenden die Möglichkeit zur Mitgestaltung einzuräumen. So wurden für die Implementierung der Voize-Technologie in seiner Pflegeinrichtung zusätzlich zur Schulung aller Mitarbeitenden einzelne „Voize-Coaches“ ausgebildet, die ihren Kolleg:innen bei der Anwendung zur Seite stehen. Für jede Pflegefachkraft würden damit pro Schicht ca. 20 Minuten an Zeit eingespart, die dafür in der originären Pflege eingesetzt werden könnten.

Lena Przibylla vom Zweckverband der Kitas im Erzbistum Berlin stellte das Projekt "Kita-Lab und Intranet: Auf dem Weg zur vernetzten Zusammenarbeit" vor. Beim Träger Hedi Kitas wurde ein vernetztes Intranet in 73 Kindertageseinrichtungen implementiert. Darüber werde jede Fachkraft über unterschiedliche Endgeräte und Formate informiert und ist somit an allen Prozessen beteiligt. Das Angebot umfasse IT-Schulungen für alle Mitarbeitenden und eine offene digitale Sprechstunde. Zusätzlich werde über die Homepage Informationen vermittelt, ein Kita-Blog geführt und mithilfe einer Eltern-App kommuniziert. Dabei sei die Kita-Leitung für die Einführung der digitalisierten Prozesse und Tools eine Schlüsselperson, betonte Lena Przibylla.
In der anschließenden Diskussion wurden Visionen und Transferstrategien auch für andere soziale Berufsfelder erörtert. Es wurde diskutiert, dass die gemeinsame Entwicklung und Implementierung digitalisierter Prozesse eine vielseitige Arbeitserleichterung bedeuten kann. Dabei sei die Einbindung der Teams wichtig, um die Bedeutung und den Nutzen von IT und KI zu verdeutlichen. Stichworte wie Vernetzung, Mitverantwortlichkeit, Entlastung und das gemeinsame Verständnis innerhalb einer Organisation seien bedeutsame Faktoren für eine erfolgreiche Implementierung digitaler Prozesse. Dies könne auch zur langfristigen Fachkräftebindung beitragen.
Workshop 4: Fachkräftebindung – Onboarding, Arbeitskultur und Gesundheitsförderung: Wie können Mitarbeiter:innen gestärkt und gehalten werden

Im Workshop 4 zum Thema Fachkräftebindung berichtete Brigitte Buermann-Gerdes von der Initiative Leben mit Behinderung aus Hamburg von der Personalstrategie „Besser mit Dir“, die wenige Jahre nach Einführung bereits Wirkung zeige: Die Anzahl der notwendigen Stellenbesetzungsverfahren sei um rund 50 Prozent gesunken. Das mehrere Handlungsfelder umspannende Programm ziele darauf ab, die Bindung der Mitarbeitenden über mehr Arbeitszufriedenheit zu stärken, indem die Arbeitsbedingungen verbessert sowie mehr Beteiligungsmöglichkeiten für Mitarbeitende geschaffen werden. Ein wesentlicher Baustein sei dabei die systemische Führung mit Feedbackkultur, Beziehungspflege und konstruktiver Haltung.

Wertschätzung stand auch im Zentrum des Konzepts „Atmosphärische Führung als Schlüssel zur Arbeitsplatzzufriedenheit“ von dem Claudia Manz-Knoll von der Kindertagesstätte Nordpfälzer Glückskinder berichtete. Die Art der Mitarbeiterführung sei der zentrale Schlüssel für eine gelingende Personalbindung und mehr Arbeitsplatzzufriedenheit. Es gehe darum, durch Wertschätzung die positive Selbstwahrnehmung der Fachkräfte zu stärken, um dem „Jammertal der Kita-Krise“ mit professionellem Selbstverständnis zu entgegnen, so die Kita-Leitung. Weitere Kriterien seien gute Kommunikation und Koordination zwischen Träger, pädagogischer Gesamtleitung und den Kita-Standorten, sowie Konzepte zur Netzwerkarbeit, Konsultationskitas und Unterstützungsangebote der pädagogischen Gesamtleitung.
In der Diskussion mit den Teilnehmenden des Workshops stand die Perspektive von Führungskräften als Dreh- und Angelpunkt der Personalbindung im Mittelpunkt. Festgestellt wurde, dass Führungskräfte Zeit benötigen, um Führungskompetenzen zu erlernen und die steigenden Ansprüche zu erfüllen. Auch wurde die Frage diskutiert, wie der sinkenden Motivation von Fachkräften in eine Führungsverantwortung zu gehen, jenseits finanzieller Anreize, begegnet werden könne.
Eindrücke aus der WiFF-Fachforum